Christine Muller, die Architektin und die Stadt

Die luxemburgische Architektin und Stadtplanerin Christine Muller hat sich schon immer gegen eine Abgrenzung zwischen Stadtplanung und Architektur gewehrt und ihren ganz eigenen Blick auf die städtische Bebauung geworfen. Dieser Ausrichtung auf eine symbiotische Verbindung zwischen Gebäuden und ihrer städtischen Umgebung verdankt Belval viel von seinem einzigartigen Charakter.

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Die Architektin und Stadtplanerin Christine Muller entwickelte noch in der Planungsphase einen der ersten Masterpläne für das Quartier Belval. Die Trennung zwischen diesen beiden verwandten Disziplinen war ihr schon immer ein Dorn im Auge. Sie wirft stattdessen lieber ihren ganz eigenen Blick auf die städtische Architektur. Dieser Ausrichtung auf eine Verbindung zwischen Gebäuden und ihrer städtischen Umgebung, verdankt Belval seinen einzigartigen Charakter.

Architektur und Stadtplanung sind zwei unterschiedliche Disziplinen, doch Sie halten diese Trennung für unangebracht. Warum?

Christine Muller: „Ich bin zwar Architektin und Stadtplanerin, zuallererst aber ein soziales Wesen, ein Mensch, dem es vor allem um die Gemeinschaft geht. Schon früh in meiner Karriere als Architektin hat mich dieses Verlangen nach einem Leben in Gemeinschaft dazu veranlasst, mich ebenso sehr für das Leben im Inneren als auch für unser Miteinander außerhalb von Gebäuden zu interessieren. Es versteht sich von selbst, dass Wohnen und städtischer Raum intrinsisch miteinander verbunden sind. Zu Beginn meiner Karriere habe ich vor allem Einfamilienhäuser gebaut, und das hat mich überhaupt nicht befriedigt, weil ich den Eindruck hatte, mich ständig mit dem Eheleben meiner Kunden und ihren psychologischen Problemen auseinandersetzen zu müssen! Das war eher eine Art therapeutische Arbeit, die ganz auf die einzelnen Personen und ihre Probleme abgestimmt war. Architekten müssen sich häufig auf individuelle Personen einstellen, ich hingegen betrachte meinen Beruf als eine soziale Tätigkeit, für die man umfassende soziologische Kenntnisse in Bezug auf den städtischen Raum benötigt. Auf diese Weise habe ich mich nach und nach zu einer Architektin mit Schwerpunkt Stadtplanung entwickelt. Als ich begann, Mehrfamilienhäuser zu entwerfen, wurde mir klar, dass ein Wohngebäude im Grunde ein Teil des städtischen Raums ist.“

Architekten müssen sich häufig auf individuelle Personen einstellen, ich hingegen betrachte meinen Beruf als eine soziale Tätigkeit, für die man umfassende soziologische Kenntnisse in Bezug auf den städtischen Raum benötigt.

Stehen diese beiden Disziplinen nicht manchmal im Konflikt?

C.M.: „So würde ich es nicht ausdrücken. Wenn man aber versucht, beides immer miteinander zu verknüpfen, gewinnen schon manchmal die städteplanerischen Interessen die Oberhand, was im Endeffekt zu Lasten der Architektur gehen kann. Aus diesem Grund begeistern wir uns bei Dewey Muller in unserer Funktion als Stadtplaner/Architekten häufig mehr für den Entstehungsprozess als für das Endergebnis unserer Projekte. Diese Philosophie ermöglicht es uns auch, in der heutigen Zeit besser zu überleben. Vor 30 Jahren hat sich alles verändert. Heutzutage haben viele Beteiligte Einfluss auf den Prozess, und jeder bringt sein sehr spezifisches und fragmentiertes Know-how ein. Das Endergebnis entspricht daher eigentlich nie unserer ursprünglichen idealistischen Vision. Der Architekt eines Entstehungsprozesses zu sein, ist aber absolut faszinierend. Diese Fähigkeit, sich von der Obsession im Hinblick auf das perfekte Endergebnis zu befreien, eröffnet uns häufig unerwartete Perspektiven.

Entwickelt sich dieser Ansatz im aktuellen Kontext immer mehr zum Vorteil?

C.M.: „In gewisser Hinsicht ja. Ich beobachte jedenfalls mit Freude den aktuellen Trend hin zu einer Kreislaufwirtschaft der Architektur. Sie zwingt uns, lokale Materialien zu verwenden, das große Feld der Möglichkeiten etwas einzugrenzen, aber auch erfinderischer zu werden, sich mehr denn je mit der Beziehung zwischen dem Gebäude und den Materialien, die seine unmittelbare Umgebung ausmachen, auseinanderzusetzen. Das steht absolut im Einklang mit meiner Arbeitsphilosophie, Architektur und Stadtplanung zu verbinden. Auf diese Weise können wir uns vielleicht aus dem etwas technokratischen Joch befreien, in dem unser Beruf so häufig gefangen ist.

Wie ist es Ihnen vor 20 Jahren gelungen, Ihre Vision in den Masterplan von Belval einzubringen?

C.M. : „Damals sah ein erster Masterplan eines deutschen Büros vor, das Gelände durch die Ansiedlung von Gewerbe-, Verwaltungs-, Kultur- und Freizeitaktivitäten zu beleben. Es gab keinen Platz für eine Wohnanlage.

Glücklicherweise fand damals gerade ein Umdenken statt: Der Innenminister hatte die Vision, die in Luxemburg ansässigen Institutionen zu dezentralisieren und im Süden des Landes eine Universität und ein Forschungszentrum zu schaffen. Ich wurde gebeten, den Masterplan für diese neue Universitätsstadt zu entwickeln, mit einem besonderen Fokus auf dem Wohnaspekt. Das hatte ich vorher noch nie gemacht. Aber ich habe mich eingearbeitet. Unser Projekt, das nach dem Vorbild deutscher und belgischer Konversionsprojekte mit gemischter Nutzung entwickelt wurde, war gleichzeitig von meiner Vision einer möglichst durchmischten Stadtplanung und meiner Ablehnung des ehemaligen Modells monofunktionaler Stadtviertel geprägt. Dieser Masterplan hat alle überrascht, weil es eine neue Idee war und im Widerspruch zu der Vision einer Stadt stand, die um eine alles beherrschende Autobahn herum gebaut wird. Am Anfang erforderte das viel Überzeugungsarbeit: Es gab einige Irritationen auf Regierungsseite. Nach und nach ließen die Entscheider aber von ihren vorgefertigten Ideen ab. Rückblickend wird mir klar, dass dieser Masterplan der Beginn einer unglaublichen Reise war, dass er es uns ermöglicht hat, uns von einem „technokratischen“ Urbanismus hin zu einer echten Stadtplanung zu entwickeln, die alle Komponenten des Stadtlebens in die Rechnung mit einbezieht. Auf der Grundlage dieses Masterplans konnten die politischen und konzeptuellen Grundlinien definiert werden, auf denen wir dann das zukünftige Stadtprojekt aufgebaut haben.“

Welcher Teil des Standorts entspricht Ihrer Ansicht nach heute am ehesten Ihrer ursprünglichen Vision und Ihrer Philosophie der Symbiose zwischen Architektur und Stadtplanung?

C.M.: „Der Park Um Belval, der einerseits wichtige Funktionen für das Stadtleben erfüllt, andererseits aber auch eine Rolle als Erholungsfläche und grüne Lunge der Stadt spielt. Und dann wäre da noch die Square Mile, die wir zu Beginn als sehr dicht besiedeltes Carré mit kleineren Straßen konzipiert haben, die sich nach Bedarf der Bebauungslage anpassen. Die aktuelle Version sieht etwas anders aus, entspricht aber immer noch der Grundidee, die Linearität der Straßen zu brechen, um einen organischeren und verspielteren Raum zu schaffen, der den Wohnbedürfnissen des Quartiers wirklich entspricht. Der zukünftige „Place des Bassins“im Zentrum der Square Mile ist ebenfalls ein grandioses Projekt, das Architektur und Stadtplanung perfekt verbindet. Die Sinterbecken werden zu neuem Leben erweckt, in Form eines sehr intelligent gestalteten öffentlichen Raums, der auf stilvolle Weise an die industrielle Vergangenheit des Standorts erinnert. Auf diese Weise entsteht ein Dialog zwischen dem industriellen Aspekt mit seinen massiven Dimensionen einerseits und der Nüchternheit der neuen architektonischen Elemente andererseits. Dabei spielte das Konzept der Gemeinschaft eine zentrale Rolle.

Stadtgärten, Smart Cities, Öko-Viertel oder Zwischennutzungkonzept für den urbanen Raum, die „Tell me more!“-Serie erforscht neue Trends und erteilt Experten das Wort. ´

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