Die Architektur im Dienste eines avantgardistischen Rad- und Autoverkehrs in Belval

Wenn sich ein Architekt und ein Künstler zusammentun, um Straßenverkehrsinfrastrukturen zu entwickeln, entsteht daraus eine ganz neue Form der Nutzung.

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Jim Clemes und Nico Thurm haben auf diese Weise einen beeindruckenden Radweg entworfen, der Belval mit Esch-sur-Alzette verbinden soll. Außerdem konzipierten sie Abschnitte des neuen Autobahntunnels „Liaison Micheville“ zwischen Frankreich und Luxemburg.

Wagen wir einen Blick in die Zukunft: In wenigen Monaten schon wird der Radweg PC8, entworfen vom Architekten Jim Clemes und dem Künstler Nico Thurm, Belval mit Esch-sur-Alzette verbinden. An einigen Stellen wird er über der Strecke verlaufen, die in Zukunft der längste Fahrradweg Europas werden soll. Mit zum Konzept gehören Haltebuchten und Ruheplätze, an denen Radfahrer oder Spaziergänger eine Rast einlegen können.

In Form von Kurven und sanften Wellen wird er Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit bieten, einen noch unbekannten Teil der Region auf neue Weise zu entdecken, der aufgrund seines bisherigen industriellen Charakters und der Abgrenzung durch die Bahnschienen des Betreibers ArcelorMittal über lange Zeit für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war. Das Motto der Stunde: Vereinbarung von Form und Funktion oder auch des Schönen mit dem Praktischen auf einer Fläche, die Kompromisse voraussetzt. Das Ergebnis ist ein Werk, das Maßstäbe setzen wird.

Die Architektur im Dienste eines avantgardistischen Rad- und Autoverkehrs in Belval
Nico Thurm

Dasselbe Duo wurde auch mit der Mission betraut, dem neuen Autobahntunnel Liaison Micheville an der A4, einem Großprojekt der Straßenbaubehörde, eine architektonische und ästhetische Kohärenz zu verleihen. Jenseits der Tonnen von Beton und des massiven Charakters dieser Unternehmung, jenseits der Ingenieurskunst, die notwendig ist, die beiden Brücken zu errichten und die Tunnel zu graben, haben Clemes und Thurm versucht, über das Prinzip der Vertikalität eine gewisse visuelle Kohärenz zu schaffen, einerseits durch die vertikalen Rohrleitungen, die die Tunnel einfassen, andererseits durch die Lärmschutzstruktur, die die Brücke überdeckt.

Architektur und industrielles Erbe

Der aus Esch-sur-Alzette stammende Jim Clemes kennt diesen Ort ganz genau. Er hat im Laufe der Jahre seine Transformation beobachtet, von der Industriestadt, in der die Fabriken nie stillstanden, zur Industriebrache und jetzt zu einem Ort, der wieder auflebt, an dem neue Universitätsviertel und Technologiezentren entstehen, der nicht nur geprägt ist von Inspiration und Innovation, sondern auch vom dynamischen Leben eines neuen Wohnviertels.

Die Architektur im Dienste eines avantgardistischen Rad- und Autoverkehrs in Belval
Nico Thurm und Mélany Albert, Bauingenieurin und Architektin

Das Büro AJC hat sich auf ganz natürliche Weise einen Erfahrungsschatz in der Neugestaltung des Industrieerbes erworben. „Unsere Philosophie besteht darin, sich so intensiv wie möglich mit dem Potenzial der Orte zu befassen,“ erklärt Mélany Albert, Bauingenieurin, Architektin und Leiterin der beiden Projekte. „Die Frage, die man sich zu Beginn jedes Projekts stellt, lautet: Was hat uns dieser Ort zu sagen? Im Fall von Belval und der Region Süd gibt es eine ganze industrielle Geschichte, die mit diesem Ort verwoben ist und die zwangsläufig jede Neugestaltung prägen muss. Wir erzielen die gewünschte architektonische Wirkung auf der Grundlage dieser vorgegebenen Linien, und unsere Formensprache entwickelt sich auf Basis dieser Vergangenheit, damit sich das Endprodukt dann perfekt in die Landschaft einfügt. Die Architektur, die auf diese Weise entsteht, spricht so umso stärker zu uns.“

Mit dem Rad auf Entdeckungstour durch eine neu entstandene Landschaft

Ein Radweg. Eine Hängebrücke. Ein Übergang zwischen zwei Welten. All das vereint sich in dem Werk, das sich hier in wenigen Monaten erheben wird. „Es wird ein sehr symbolisches Bauwerk,“ erklärt Mélany Albert. „Das Gelände auf der einen Seite gehört ArcelorMittal, auf der anderen Seite haben wir die Bahnlinie, und in der Mitte, an einem bisher für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Ort, bringen wir die beiden Welten zusammen. Auf einer Fläche von rund zwei Metern Breite erhalten Radfahrer und Fußgänger einen neuen Zugang zu Belval, auf dem kürzesten und direktesten Weg.“

Das Terrain ist voller Einschränkungen, die aber auch Raum für architektonische Lösungen bieten. Da gibt es beispielsweise die Rohre und Leitungen für die Wasser- und Stromversorgung. Es gibt große, alte Bäume, die unbedingt erhalten bleiben müssen. Wir mussten den Verlauf daher an manchen Stellen auf findige Weise umlenken, um diese Bäume zu erhalten. Gleichzeitig können wir sie so aber auch als attraktiven Blickfang einsetzen. Die Hängebauweise macht es möglich, bereits bestehende Infrastrukturen am Boden oder unter der Erde nicht zu beeinträchtigen. Und das Ganze präsentiert sich in üppigen, schönen Linien. Den Radfahrern schenken wir einen Blick in die Weite bis nach Frankreich. Auf der einen Seite ist die Strecke von grünen Landschaften gesäumt, auf der anderen von den imposanten Infrastrukturen der ehemaligen Stahlindustrie, und als besonderer Blickfang präsentiert sich der wunderschöne Bahnhof von Belval. Vielfältiger könnte ein Ausblick nicht sein.

Die Architektur im Dienste eines avantgardistischen Rad- und Autoverkehrs in Belval

Der Künstler im Dienste der Architektur

Die Zusammenarbeit zwischen Jim Clemes und dem Künstler Nico Thurm besteht laut Mélany Albert schon seit mehreren Jahren. „Wir arbeiten seit unseren allerersten Entwürfen mit Nico zusammen: Er ist es, der die ersten Skizzen anfertigt und die groben Linien entwickelt. Als Künstler hat er instinktiv einen Bezug zur Materie, zu Größen und Proportionen, die wir anschließend sehr leicht in eine kohärente architektonische Sprache übertragen können.“

Die Architektur im Dienste eines avantgardistischen Rad- und Autoverkehrs in Belval

Der Künstler arbeitet allerdings nicht so rational wie ein Architekt. Er verleiht den Projekten eine etwas verrückte Note, die der Architekt dann zähmen muss, ohne dass dabei die Originalität verloren geht. Seine Vision ist immer etwas anders und stark künstlerisch geprägt, bezieht aber auch die Perspektive des Architekten mit ein.

Auch bei der Entwicklung des architektonischen Konzepts der Liaison Micheville war es die originelle Handschrift von Nico Thurm, die den Impuls zu einem Ansatz gab, der sich ganz auf die Vertikalität konzentriert. „Wir werden an den Ein- und Ausgängen der Tunnel akustische Elemente und über den Brücken eine Lärmschutzstruktur anbringen. Sie sollen nicht nur der Lärmbelastung entgegenwirken, sondern spielen auch eine ästhetische Rolle,“ so Mélany Albert.

Das Konzept der Tunnel ist äußerst durchdacht: Vertikale Rohre fassen die Verkehrswege ein und verwandeln sich an manchen Stellen des Tunnels in eine Überdachung. Neben der starken architektonischen Wirkung bietet dieses Konzept auch die Möglichkeit eines sanften Übergangs vom intensiven Sonnenlicht über den Halbschatten in die Dunkelheit des Tunnels und dann am Tunnelausgang wieder schrittweise zurück ins Licht.“

Die Architektur im Dienste eines avantgardistischen Rad- und Autoverkehrs in Belval

So macht man Architektur bei Jim Clemes: durch eine Kombination von Form und Funktion auf Augenhöhe. Mit einem Sinn für Kohärenz und Nachvollziehbarkeit, selbst bei sehr fragmentierten Räumen.

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