Gebäudenormen ganz neu gedacht: Innovation in der Stadtplanung

Wenn von Gebäuden die Rede ist, die die Norm durchbrechen, denkt man häufig an Gebäude mit Dutzenden von Etagen. Beim Begriff „Norm“ geht es aber um weit mehr als nur die Größe eines Gebäudes.

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Sebastien Labis

Auf diese Weise entstehen schon heute die Gebäude von morgen.

Wenn von Gebäuden die Rede ist, die die Norm durchbrechen, denkt man häufig an Gebäude mit Dutzenden von Etagen. Beim Begriff „Norm“ geht es aber um weit mehr als nur die Größe eines Gebäudes. Auf diese Weise entstehen schon heute die Gebäude von morgen.

„Das erste Gebäude, das einem in den Sinn kommt, wenn man davon spricht, dass Normen durchbrochen werden, ist der Wolkenkratzer Burj Khalifa in Dubai. Oder aber das Morpheus Hotel von Zaha Hadid in Macao oder die Fondation Louis Vuitton von Frank Gehry in Paris“, bestätigt Sebastien Labis von BPI diese allgemeine Idee der Norm im Hinblick auf die Größe oder die Besonderheit der Architektur. „Ein Gebäude kann aber auch auf völlig andere Weise die Norm durchbrechen, und Beispiele dafür finden wir in Luxemburg.“ So sieht es auch Shahriar Agaajani, Ingenieur und Geschäftsführer von ASARS: „Es ist vielmehr eine technologische Frage.“

Shahriar Agaajani

Normen beziehen sich nicht nur auf die Größe

Für Sebastien Labis, Entwicklungsleiter von BPI, sind Gebäude, die die Norm durchbrechen, solche, die sich an alle Verwendungszwecke anpassen und damit als Wohn-, Gewerbe- oder Bürogebäude dienen können. Er präzisiert aber auch: „Natürlich ist es einfacher, ein außergewöhnliches Gebäude zu entwickeln, wenn es nur einen einzigen Investor gibt, beispielsweise beim Bau von Bürogebäuden für ein bestimmtes Unternehmen. Ein Gebäude kann aufgrund einer neuen Nutzung nach Renovierung die Normen durchbrechen, wie die Philharmonie, die eine atypische Architektur mit einer außergewöhnlichen Akustik verbindet.“

Er spricht auch von Gebäuden, die die Öffentlichkeit als besonders außergewöhnlich ansieht, „wie energiepositive Gebäude“. Das sieht Shahriar Agaajani, Geschäftsführer von ASARS, ebenso und erläutert es am Beispiel des Projekts Belval IV. 2007 konzipierte ASARS das erste Gebäude im Quartier von Belval. „Jetzt haben wir gerade das letzte Wohngebäude fertiggestellt, und der Ansatz hat sich in 14 Jahren deutlich weiterentwickelt.“

Energiebezogene Normen: das Dach

Noch vor einigen Jahren war es die Norm, das Dach eines Gebäudes hauptsächlich als Schutz gegen Witterungseinflüsse zu betrachten. „Natürlich müssen wir Gebäude auch heute noch vor dem Wetter schützen, wir müssen aber auch an die Ökobilanz der Gebäude denken und beispielsweise verlorene Grünflächen an anderer Stelle wieder aufnehmen, zum Beispiel auf dem Dach“, erklärt Shahriar Agaajani. Auch durch die Integration von Solarmodulen kann die Ökobilanz eines Gebäudes ausgeglichen werden: „So wird an einem Ort Energie erzeugt, an dem zuvor keine Energieerzeugung stattfand, und das Gebäude wird trotz seiner enormen Größe plötzlich energetisch autark.“

Shahriar Agaajani weist auch darauf hin, dass Regenwasser aufgefangen wird, um die Dachbegrünung und die Permakultur-Gemüsegärten zu bewässern, die den Bewohnerinnen und Bewohnern zur Verfügung stehen. Diese Art des Nutzgartens ist im Übrigen eine Antwort auf neue gesellschaftliche Normen.

Raum für Gemeinschaft: eine neue intergenerationelle Norm

Der Geschäftsführer von ASARS betont, dass für ihn „die Gebäude nicht mehr nur dafür entworfen werden, damit sich die Menschen ins Private zurückziehen können, sondern auch als ein Ort, an dem sie zusammenkommen können“. Gerade das Dach, das komplett neu gedacht wurde, ist für ihn das perfekte Beispiel: „Neben der Tatsache, dass wir hier verloren gegangene Grünflächen kompensieren wollten, haben wir auch einen gesellschaftlichen Ansatz verfolgt, indem wir Kindern, älteren Menschen oder eigentlich Menschen jeden Alters die Gelegenheit gegeben haben, sich hier in einem angenehmen Rahmen zu treffen.“

Die Gänge des Gebäudes Belval IV sind mit begrünten Wänden versehen. Sie werden dank des aufgefangenen Regenwassers nicht nur autonom bewässert, sondern verwandeln auch das, was sonst nur ein Durchgangsort wäre, in etwas ganz Neues: „Die Akustik ist wahnsinnig angenehm. Es ist ein Ort, an dem sich die Leute wohlfühlen und Zeit miteinander verbringen können“, erklärt uns der Geschäftsführer von ASARS.

Shahriar Agaajani

Technische Norm: die Materialfrage

Wenn man Entwicklungsleiter Sebastien Labis auf Materialien anspricht, erklärt er rundheraus, dass es für ihn mittlerweile undenkbar ist, nicht immer auch ESG-Kriterien (also Kriterien von Umweltschutz, Gesellschaft und Governance) in die Rechnung mit einzubeziehen. „Bei einem Teil unserer Projekte ist das quasi verpflichtend.“ Die Materialfrage wird damit zum Dreh- und Angelpunkt.

Seiner Ansicht nach sind die Finanzierungsbedingungen für Großinvestoren bei ökologisch verantwortungsbewussten Projekten deutlich besser. „Damit wird die Attraktivität dieser Projekte erhöht, und die Wiederverkaufspreise werden verbessert (oder zumindest kann man im Gegenzug sagen, dass sich traditionelle Gebäude im Vergleich schlechter verkaufen lassen).“

Sebastien Labis spricht in dieser Hinsicht gern vom Holz: „Das ist die einzige Bauweise mit positiver Ökobilanz.“ Holz ist ein ausgezeichneter Wärmeregulator, es ermöglicht eine gute Akustik, und es ist ein leichtes Material, das sich gut transportieren lässt. „Holz speichert während der Wachstumsphase CO, die Produktion hingegen erzeugt kaum CO“, so Labis. Der Entwicklungsleiter von BPI erläutert weiter: „Von den zahlreichen Vorteilen, die Holz als Baustoff bietet, möchte ich hier nur die schnelle Verarbeitung und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf der Baustelle dank der Vorfertigung im Werk, die Reduzierung von Baustellenabfällen und die wesentlich leichtere Struktur erwähnen, die auch einen Vorteil im Hinblick auf die Fundamente bietet.“ Sein Fazit lautet: „Wir haben für das Gebäude, das wir in Belval errichten werden, ermittelt, dass wir im Rahmen des Projekts im Vergleich zu einer herkömmlichen Baustelle 10.000 Tonnen CO einsparen werden.“

Innovative Gebäudemodelle durchbrechen damit die Norm, aus ökologischer, aber auch gesellschaftlicher Sicht. Auf diese Weise revolutionieren sie nach und nach den Immobilienmarkt. Und Sebastien Labis stellt noch einen weiteren Vorteil heraus: „Wir haben sogar festgestellt, dass wir bei Projekten, die diesen neuen Normen entsprechen, bessere Finanzierungsbedingungen erhalten können. Auch lässt sich ein Gebäude aus Holz teurer verkaufen als beispielsweise ein traditionelles Gebäude aus Beton.“

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