Vor 100 Jahren hätte sich ein Arbeiter im Stahlwerk nicht vorstellen können, dass es seiner Urenkelin ein Jahrhundert später möglich sein würde, denselben Boden zu betreten und dort an einer mehrsprachigen internationalen Universität ein Studium zu absolvieren. Einfach unglaublich. Im Grunde unterscheidet sich diese Entwicklung aber gar nicht so sehr von der Entwicklung der luxemburgischen Metallindustrie von ihren Anfängen bis zu ihren Hochzeiten.
In einem Land, das zunächst auf Industrie setzte und sich dann der Finanzwelt zuwandte, sind höhere Bildung und universitäre Forschung derzeit die neuen nationalen Wachstumsfaktoren. Eine mutige Wette, die sich jedoch innerhalb von zwei Jahrzehnten bewährt hat und nun Früchte trägt.
Große Veränderungen zur Jahrtausendwende
2003 änderte sich alles. Aus dem Wunsch heraus, eine entscheidende Rolle in der Wissensökonomie einzunehmen und auf globaler Ebene zur wissenschaftlichen Innovation beizutragen, entstand die neue staatliche Universität Luxemburg. Der Großteil ihrer Fakultäten zog zwischen 2011 und 2015 nach Belval, in neue Gebäude, die ebenso spektakulär wie funktionell entworfen und am Fuße der alten Hochöfen auf elegante Weise in das Industrieerbe eingepasst wurden.
Schon bald siedelte sich hier auch der Bereich Management an, mit 377 Studenten der beliebteste Studiengang an der Universität Luxemburg. In der „Maison du Nombre“, dem Haus der Mathematik und Informatik, bereiten sich diese Studenten auf ihre Zukunft im Bank- oder Versicherungswesen oder auf eine Karriere in der Wirtschaft vor. Mathematik, Personalmanagement, Buchhaltung, deskriptive Statistik: Wenn bei all diesen Fächern irgendwann der Kopf raucht, kann man draußen in einer postindustriell gestalteten Umgebung frische Luft tanken und neue Kraft schöpfen.
Die „Maison du Livre“, das Haus des Buches, ist mit ihrer nach wie vor erhaltenen Metallstruktur der ehemaligen Möllerei ein architektonisches Juwel. Die Hülle setzt sich aus unzähligen Dreiecken aus Stahl und Siebdruckglas zusammen. Hier begegnen sich künftige Erziehungswissenschaftler und Informatiker, die sich in der ruhigen Bibliotheksatmosphäre mit Ernst und Eifer ihrem Bachelor-Studium widmen. Etwas geselliger geht es vermutlich in der „Maison des Arts et des Étudiants“, im Haus der Künste und der Studenten, zu. Hier finden nicht nur Kulturveranstaltungen, sondern auch Studentenkonzerte statt, zu denen die Fans in Scharen in den Mehrzwecksaal strömen. Das Programm ist vielfältig
Internationaler geht es nicht
In nur 16 Jahren hat sich die junge Universität allen Unkenrufen zum Trotz durchgesetzt und als wichtiger Bildungsstandort etabliert. Heute ist sie Heimat für 6.714 Studenten, 270 Lehrkräfte und mehr als 1.700 Forscher, darunter 440 Postdoktoranden. „Laut Times Higher Education World University Rankings sind wir die internationalste Universität der Welt“, rühmt sich Rektor Stéphane Pallage gegenüber der Tageszeitung Le Quotidien.
Hier lebt man tatsächlich jeden Tag den europäischen Traum vom multikulturellen Miteinander. Gelehrt wird in mehreren Sprachen, vor allem auf Französisch, Englisch und Deutsch. Den Studenten wird nahegelegt, ein Semester im Ausland zu absolvieren. Die Studenten und Doktoranden kommen aus 25 verschiedenen Ländern, nicht selten aus so weit entfernten wie Indien und Australien. Lehrkräfte und Gastprofessoren stammen von den besten Universitäten der Welt.
Das fängt schon beim Rektor an, einem Belgier, der lange Jahre an der Université du Québec à Montréal (UQAM) verbrachte und daher in seinem Ansatz europäische mit amerikanischen Methoden verbindet: mit einem besser auf die Bedürfnisse des Marktes abgestimmten Bildungsangebot, einer stärkeren Ausrichtung auf die Innovationen innerhalb der Arbeitswelt und Unterricht in kleineren Gruppen.
„Bei uns sitzen die Studenten nur sehr selten mit 500 anderen im Hörsaal“, erklärte Stéphane Pallage in einem Interview mit der Tageszeitung Le Quotidien. „Das kommt vielleicht am ersten und letzten Tag vor, aber normalerweise ist es eher eine echte Zusammenarbeit mit den Lehrkräften. Das ist in Europa sonst selten zu finden.“
Die besonders auf die Forschung ausgerichtete Universität verdankt ihren guten Ruf unter anderem ihren drei interdisziplinären Forschungszentren, dem Interdisciplinary Centre in Security, Reliability and Trust (SnT), dem Luxembourg Centre for Systems Biomedicine (LCSB) und dem Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C²DH).
„Wir sind eine ganz besondere Universität, die aus einer Vision heraus entstanden ist“, so Stéphane Pallage weiter. „Unsere Universität ist absolut modern und interdisziplinär aufgestellt. Das ist eine große Stärke, denn die Probleme unserer Zeit sind von einer solchen Komplexität, dass häufig ein Blick aus ganz unterschiedlichen Perspektiven nötig ist, um Fragen zufriedenstellend beantworten zu können. Wenn sich ein Wirtschaftswissenschaftler mit einem Biologen und einem Informatiker austauschen kann, ergibt sich daraus in vielen Fällen ein wesentlich größeres Innovationspotenzial, als wenn Ökonomen ausschließlich unter sich bleiben. “
Ausnahmecampus Belval
Die Studenten der Universität sind von allen Bewohnern des Quartiers diejenigen, die sich am häufigsten rund um die Hochofenterrasse aufhalten. Ihr Campus, die „Cité des Sciences“, wurde auf einzigartige Weise rund um die Stahl- und Betonstrukturen der ehemaligen Industrieanlage erbaut.
Im Zentrum dieses besonderen Ortes erhebt sich majestätisch die „Maison du Savoir“, das Haus des Wissens. Auf 18 Etagen ist hier das Verwaltungszentrum der Universität untergebracht. Der horizontale Gebäudeteil, der an eine Brücke erinnert, beherbergt alle Infrastrukturen für Konferenzen, zwölf Hörsäle, 60 Seminarräume sowie Besprechungs- und Ausstellungsräume.
Neben der „Maison du Livre“, der „Maison du Nombre“ und der „Maison des Arts et des Étudiants“ gibt es auf dem Campus noch die „Maison des Sciences Humaines“, das Haus der Humanwissenschaften, ein sehr klarer und kompakter Bau auf einem verglasten, transparent gehaltenen Erdgeschoss sowie das naturwissenschaftliche Zentrum, bestehend aus der „Maison des Sciences de la Vie“ (Haus der Lebenswissenschaften), der „Maison de l’Environnement“ (Haus der Umwelt) und der „Maison des Matériaux“ (Haus der Materialien). Dazu kommen noch die „Maison de l’Innovation“, das Haus der Innovation, mitten in den Überresten der alten Industrieanlage, sowie die „Halles d’Essais d’Ingénieurs“, ein Gebäude für wissenschaftliche Experimente und Materialversuche östlich der Hochofenterrasse.
Ein solch besonderes Umfeld haben nur wenige europäische Universitäten zu bieten.
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